Erst kürzlich habe ich meine liebe Freundin Hannah getroffen. Hannah ist seit einigen Jahren in einem großen Unternehmen beschäftigt, gilt als gestandene Expertin für ihren Bereich, und war bislang als Stabsstelle ihrem Vorstand zugeordnet. Mit ihrer Expertise ist auch das Aufgabengebiet gewachsen, neue Prioritäten wurden gesetzt, die Arbeit wurde in den letzten Jahren immer mehr, die Belastung ist immens gestiegen. Mit einem Vorstandswechsel wurde nun eine neue Ausrichtung getroffen – und der Bereich von Hannah wird sukzessive erweitert. Für meine Freundin heißt das: Sie wird Führungskraft, und schon bald ist ihre erste neue Mitarbeiterin mit an Board.
Das ist ein wunderbares Geschehen, führt zu viel Entlastung einerseits – und durchaus aus zu Stress andererseits. Hannah wird zum ersten Mal Führungskraft, und es kommen Fragen auf, die herausfordernd sind und beantwortet werden sollten, um einen gemeinsamen guten Start mit der neuen Kollegin zu ermöglichen. Einige dieser Fragen haben wir und werden wir gemeinsam beantworten, und ich darf sie auch hier an dieser Stelle nochmal beleuchten und teilen. Wenn man lange Führungskraft war, dann ist oft gar nicht mehr greifbar, wo die Fallstricke liegen, wenn jemand zum ersten Mal in so eine Rolle kommt, und wir hoffen, dass die Ideen, die wir dazu zusammenführen, für viele Leser:innen hilfreich sind – sowohl für neue oder zukünftige Führungskräfte als Inspiration, wie man herangehen könnte, und auch für erfahrene Vorgesetzte als Blicklichter in Fragestellungen, die leicht auftauchen können, wenn jemand erstmals vor der Herausforderung steht, eine Rolle mit Personalverantwortung zu übernehmen.
Die aktuelle Schreibtisch-Situation
Nun kommt also in ca 5 Wochen die neue Mitarbeiterin zum ersten Mal ins Büro – und es gibt in Wahrheit überhaupt keinen Arbeitsplatz für sie.
Wie ist die momentane Situation im Büro?
Derzeit gibt es 2 Räume, einen kleineren, in dem Hannah sitzt mit einer gleichrangigen Kollegin (wir nennen Sie Kerstin), die bereits ein Team mit 8 Mitarbeiter:innen führt. Im größeren Büro sitzen die 8 Team-Mitglieder der anderen Abteilungsleiterin (Kerstin).
Das größere Büro erlaubt es nicht, dort noch einen weiteren Schreibtisch hineinzustellen, und das kleinere Büro hätte diese Option, allerdings mit erheblichen Einschränkungen – der dritte Schreibtisch hätte die Tür gleich hinter sich, und es wäre recht eng und vermutlich eher unangenehm, dort zu sitzen, wenn doch einigermaßen Betrieb im Büro ist.
Beide Abteilungsleiterinnen, also Hannah und Ihre Kollegin Kerstin, haben Termine und Besprechungen, von denen auch etliche virtuell stattfinden. Bisher gestalten die beiden das mit Absprachen so, dass – wenn eine sehr viele Videocalls nacheinander oder an einem Tag hat – die andere ggf. im home office bleibt. Sie achten auch darauf, 1-2 Tage pro Woche gemeinsam im Büro zu sein, um sich gut absprechen zu können – Hannah und Kerstin mögen sich, und arbeiten in angrenzenden Funktionen sehr eng zusammen. Daran soll sich auch zukünftig nichts ändern.
Im Abteilungsleiterinnen-Büro ist also ab und zu ein Schreibtisch frei, wenn Hannah oder Kerstin von zuhause arbeiten, aber eben nicht immer. Im größeren Büro, in dem die Mitarbeiterinnen von Kerstin sitzen, ist eigentlich immer mindestens ein Schreibtisch frei. Die 8 Kolleginnen arbeiten seit der Pandemie vermehrt von zuhause aus, und teilen sich die Büro-Tage sehr frei ein. 3 dieser Mitarbeiterinnen sind langjährig dabei, und haben sich sehr persönlich am Arbeitsplatz „eingerichtet“, mit Accessoires, Fotos, Gegenständen, die ihnen etwas bedeutet. Die anderen Team-Mitglieder folgen eher eine clean desk policy, also hinterlassen abends einen ziemlich aufgeräumten, leeren Schreibtisch ohne persönliche Gegenstände.
Was also tun, vor diesem Hintergrund?
- Den unkomfortablen Arbeitsplatz im kleinen Büro einrichten? Wo die andere Abteilungsleiterin alles hört, was man im Team zu besprechen hat, und vielleicht auch manchmal davon gestört wird? Und wo die neue Mitarbeiterin ständig von der Tür beeinträchtigt wird? Ihr das zuzumuten, weil sie eh nur Teilzeit arbeitet?
- Oder im anderen Team eine neue Regel einführen, dass niemand mehr einen festen Arbeitsplatz / Schreibtisch zur Verfügung hat, sondern abends alle Tische zu räumen sind, um dann am nächsten Tag von denen besetzt zu werden, die aus dem Büro arbeiten wollen?
- Die Kollegin fragen, ob die zukünftige Büroaufteilung nach Teams stattfinden soll, und sie zu ihrem Team in den anderen Raum zieht?
- Die neue Kollegin in einen ganz anderen Raum, relativ weit weg, am Ende des Korridors setzen? Wo sie dann alleine und als einzige ohne direkten Anschluss arbeitet?
- Die Situation alleine versuchen zu lösen?
- Mit der Kollegin Kerstin?
- Mit dem gesamten Team?
Ein Credo gegen Gleichbehandlung als scheinbar „faire“ Lösung
Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass Lösungen, die „fair“ sein sollen, häufig genau als das Gegenteil von „fair“ erlebt werden. Wenn man also versucht, alle gleich zu behandeln, dann behandelt man häufig eben nicht „fair“, sondern erzeugt Widerstände und vielleicht sogar Ärger.
Ein Beispiel dazu:
Nehmen wir an, ich esse überhaupt nicht gerne Torte. Meine liebe Freundin Claudia hingegen liebt Torte sehr. Würde man uns gleich behandeln, dann würde man eine ganze Torte so unter uns beiden aufteilen, dass jede von uns eine halbe Torte erhält – wir sollen ja beide das gleiche zur Verfügung haben. In Wahrheit wird diese Gleichbehandlung uns beiden überhaupt nicht gerecht. Für mich ist eine halbe Torte unmöglich zu schaffen, ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich vermutlich eine Viertel-Torte oder sogar mehr dann liegen lasse und am Ende entsorgen müsste. Das schlechte Gewissen macht mir in jedem Fall schlechte Laune.
Für Claudia hingegen ist die halbe Torte auch kein Vergnügen, weil sie ganz leicht auch drei Viertel einer Torte mit großer Freude essen würde.
Im Fall der Torte wäre es also für uns beide, Claudia und mich, deutlich besser, wenn wir eindeutig ungleich behandelt werden – denn wir würden beide in unseren unterschiedlichen Bedürfnissen gesehen und respektiert werden, und müssten nicht auf emotionale Ausgleichsmechanismen ausweichen, um die Situation zu kompensieren.
Was heißt das für die Schreibtisch-Situation im Büro?
Aus meiner Sicht ist der Versuch, alle gleich zu behandeln, in der Annahme, dass man dann den Mitarbeiterinnen gegenüber „fair“ ist, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Für alle zu entscheiden, dass nun niemand mehr einen eigenen, festen Schreibtisch haben darf, weil jemand das andere Team ergänzt – ein denkbar schlechter Einstieg für die neue Kollegin, der das im Schlimmsten Fall (unterbewusst) zu Lasten gelegt wird, obwohl sie eigentlich am wenigsten damit zu tun hat oder gar dafür kann. Wie kann ich also dann als Führungskraft herausfinden, was eine Lösung wäre, die allen möglichst entgegenkommt, auch wenn ich vielleicht am Ende nicht alle gleich behandele?
Meine Empfehlung als Coach…
…ist, in Schritten aufgefächert:
1) Die schon vorhandenen Mitarbeiter:innen informieren, dass in Kürze eine neue Kollegin das Parallel-Team verstärken wird.
2) Die allen bekannte Schreibtisch-Situation klar benennen. Niemand, der regelmäßig in einem der beiden Räume arbeitet, wird überrascht davon sein, dass es eigentlich für einen Zuwachs im Team keinen freien Schreibtisch gibt, und doch macht es einen wesentlichen Unterschied, wenn dieser Fakt aktiv und offen benannt wird.
3) Das Team bitten, in einem gewissen, klar definierten Zeitraum, Wünsche zu äußern, wie sie gut arbeiten können UND wie der neuen Kollegin zugleich ein angemessener Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden kann. Ich persönlich würde diesen Zeitraum kurz halten. Wenn alle anwesend sind bei dieser Besprechung, dann würde ich den Zeitraum für Rückmeldungen, Wünsche, Vorschläge auf 48 Stunden begrenzen. Das Team wird vermutlich sowieso direkt über die Thematik sprechen, und eine Zeitverzögerung bringt in diesem Fall keine neuen Lösungen, sondern führt eher zu Verschleppung.
4) Die Wünsche sortieren danach, welche Lösungsmöglichkeiten sich daraus ergeben. Diese Info und Übersicht der Möglichkeiten mit dem Team teilen. Ich persönlich würde an dieser Stelle nur das „zensieren“, was rechtlich nicht möglich ist. Das heißt, ich würde auch Lösungen, die ich nicht bevorzuge, dennoch benennen als Möglichkeiten – das entspricht sehr meinem persönlichen Führungsstil, der von viel Transparenz geprägt ist, und das kann man für sich natürlich auch ganz anders lösen.
5) Nun würde ich eine Widerstandsabfrage machen: Wenn wir nach Widerständen fragen, dann fragen wir nicht danach, wer etwas gezielt möchte, sondern wir machen den Raum für uns viel größer, indem wir fragen, wer mit einer bestimmten Lösung überhaupt nicht leben kann, also entweder voll, oder teilweise, oder gar nicht im Widerstand ist. Ich kann z.B. gar nicht im Widerstand sein, und trotzdem eigentlich etwas anderes wollen. Jedes Teammitglied ist eingeladen, sehr offen zu kommunizieren, wo ein massiver Widerstand besteht, und auch zu benennen, worum es dabei für sie / ihn / * geht. Ich würde auch als Vorgesetzte an dieser Widerstandsmessung teilnehmen, und ebenso benennen, welche Widerstände ich empfinde, und was dahinter steckt. (Wenn ich das Gefühl hätte, dass ich sie nicht offen benennen kann, dann wäre meine Empfehlung, mich selbst da nochmal zu hinterfragen, um im Falle von Konfrontationen für mich selbst Klarheit zu empfinden).
6) Basierend auf den Widerstandsabfragen wird sich eine Lösung herausbilden, aus allen möglichen Varianten, die insgesamt in beiden Teams den geringsten Widerstand auslöst. Das könnte ein gelungener erster Versuch sein, die neue Sitz- und Büroordnung zu gestalten, mit der Option, wenn es sich als nicht günstig erweist, jederzeit nachzujustieren.
Warum ich die Mitarbeiter:innen immer einbinden würde in eine Schreibtisch-Entscheidung
Jetzt hole ich nochmal ein bisschen weiter aus.
Wenn wir uns als Menschen im „gesunden“ Bereich bewegen wollen, also zum Beispiel so leben und arbeiten wollen, dass wir psychosomatisch gesund bleiben können, dann gehört dazu, dass wir Handlungsspielräume haben. Ich könnte jetzt das sog. Dreieck der Salutogenese benennen, also das Zusammenspiel von
– Verstehbarkeit (=Fakten werden benannt, die Situation ist klar kommuniziert, und nicht nur indirekt als verstanden vorausgesetzt),
– Bedeutsamkeit (=ich kann einen Sinn darin erkennen, warum eine neue Kollegin auch einen guten Arbeitsplatz benötigt, genauso wie ich einen für mich guten Arbeitsplatz benötige), und
– Handhabbarkeit (=ich habe Möglichkeiten, das nicht nur für mich handhabbar zu machen, sondern tatsächlich auch mitzugestalten und mich einzubringen mit meinen Bedürfnissen).
In Unternehmen, zumal in großen Organisationen wie Konzernen, ist manchmal der empfundene Handlungsspielraum, den Mitarbeiter:innen für sich in Anspruch nehmen können, klein. Ich bewerte hier nicht, ob es sich tatsächlich um kleine Handlungsspielräume handelt – mir geht es alleine um das Gefühl, dass manchmal die Art, wieviel wir selbst im direkten Kontext unserer Arbeit gestalten können, als wenig empfunden wird, unabhängig davon, ob das objektiv / im Vergleich / in der Außensicht ebenfalls so wahrgenommen wird.
Wenn ich dies mit der Aussicht, mich und mein Team gesund zu halten, verbinden möchte, dann heißt das, dass ich als Vorgesetzte:r jede Möglichkeit nutzen muss, um meine Mitarbeiter:innen gestalten zu lassen. Und was ist unmittelbarer, und hat ähnlich viel Impact wie die Ausgestaltung des tatsächlichen eigenen Arbeitsplatzes? Des Schreibtisches, an den ich jeden Tag, oder regelmäßig zurückkehre? Oder eben der Flexibilität, mich je nach Bedarf auch mal woanders hinsetzen zu können.
Vielleicht wird im o.g. Team die Situation so aussehen, dass für den Start der neuen Kollegin einige der senioreren Mitarbeiter:innen fix ihre Schreibtische behalten. Und andere, die hier weniger Verbundenheit spüren, oder denen es schlicht weniger wichtig ist, sich vielleicht gerne mit dem Team-Zuwachs so arrangieren, dass es flexible Arbeitstische für alle anderen gibt?
Und vielleicht lässt dieses Übergangsmodell neue Erfahrungen im Team entstehen – vielleicht setzt sich manchmal die Abteilungsleiterin der 8 Team-Mitglieder mit ins Team-Büro, wenn es flexible Arbeitsplätze gibt, weil es an diesen Tagen gut zu den Themen passt. Vielleicht hat auf einmal eine der Kolleg:innen den Bedarf, doch auch mal woanders zu sitzen, denen zunächst der eigene, feste Arbeitsplatz ein großes Anliegen war. Mit neuen Erfahrungen, die sich für uns herausbilden, entstehen in uns neue Ideen und Lösungsräume, die sich manchmal in der schnöden Theorie gar nicht vorstellen lassen. Das korreliert für mich mit dem Hinweis, dass jederzeit – oder auch nach einem fixen Zeitraum, in dem etwas neu ausprobiert wird – nachjustiert werden kann. Dass wir nicht immer schon vorab alles wissen müssen, dass wir nicht Entscheidungen für den Rest der Bürotage treffen müssen, sondern dass wir immer wieder handeln und gestalten können, basierend auf Erfahrungen, die wir uns erlaubt haben und die wir manchmal auch machen mussten, ohne dass wir es uns aussuchen konnten.
Das Team einzubinden, alle bei so etwas Wichtigem wie der Arbeitsplatzgestaltung mitgestalten zu lassen – für mich wäre das Führungsqualität. Wenn ich an als Führungskraft an dieser Stelle „Pflöcke einschlagen muss“, oder zeigen muss, dass ich gewillt bin, Entscheidungen zu treffen, dann wäre auch das eine gute Gelegenheit, mich mal wieder zu hinterfragen und zu schauen, wie ich drauf komme, dass ich anscheinend nicht ausreichend Entscheidungen treffe… aber das ist ein anderes, wichtiges Thema 🙂